Wolfgang Melzer
Nach der Morgenröte
Roman
Verlag Gunter Oettel Görlitz 2016
418 Seiten, Hardcover
19,80 Euro
ISBN 978-3-944560-33-5
Überall im Buchhandel, zum Beispiel hier.
Roman über die andere Seite der Reformation, nicht nur für historisch Interessierte.
Um das Jahr 1600 schreibt der Görlitzer Schuhmacher Jacob Böhme über Gott und die Engel, darüber, wie alles geworden ist und wie das Böse in die Welt kam.
Gleich mit seinem ersten Buch, der “Morgenröte im Aufgangk”, sorgt er für Unruhe in der Stadt.
Das Buch wird verboten und die geistliche Obrigkeit verfolgt ihn sein Leben lang. Aber er hat auch Freunde. Er schreibt weiter und Friedrich Hegel wird ihn später den ersten deutschen Philosophen nennen.
Aus Fakten und Fiktionen entsteht vor dem Leser die spannende Geschichte des wirkmächtigen Philosophen und Mystikers.
Leseprobe
(1)
An einem Vormittag im Juli ließ der hölzerne Kopf am Turm des Görlitzer Rathauses seine Kinnlade fallen und schloss sie nicht sogleich wieder, wie er es seit Jahrhunderten tat. Mit offenem Maul staunte er in den Sommertag. Gleichzeitig brüllte der goldene Löwe über der Turmuhr einen langen Schiffssirenenton. Die Stadtführer auf dem Untermarkt unterbrachen ihre Vorträge. Irritiert schauten sie zum Turm hinüber, denn der Löwe brüllte zur Unzeit; niemand hatte den Knopf gedrückt, der das Brüllen normalerweise auslöste. Dergleichen hatten sie noch nie erlebt. Gierig richteten sich Smartphones, Fotoapparate und Videokameras der Touristen auf den Rathausturm, bereit, eine Wiederholung des Spektakels aufzuzeichnen. Vergebens. Es gab keine Wiederholung. Dreißig Minuten später meldete das Lokalradio ein merkwürdiges Vorkommnis in Görlitz, wie es im Aufmacher hieß. Der Bericht schilderte, was geschehen war und endete mit der Feststellung, dass die Stadtverwaltung keinen Kommentar zu den Ereignissen abgeben wolle. Man prüfe, hieß es, die Sachlage.
Derweil pochten und rüttelten eilends gerufene Mechaniker oben im Turm an Rädern und Hebeln der Uhr herum, untersuchten die elektronische Steuerung, konnten aber keinen Fehler finden. Wenn es weder eine mechanische noch eine elektrische Ursache für das Eintreten unmöglicher Ereignisse gäbe, dann handele es sich wohl um einen Riss in der Zeit, um eine lokale Anomalie in Gestalt einer vierdimensionalen Zeitschleife sagten sie augenzwinkernd zu den inzwischen eingetroffenen Presseleuten. Oder um eine fehlerhafte Wahrnehmung, bedingt durch Hysterie, setzten sie hinzu, keinen Zweifel lassend, welcher Erklärung sie den Vorzug gaben.
Die Abendnachrichten des Mitteldeutschen Fernsehens allerdings widerlegten die Skepsis der Ingenieure. Ein Amateurvideo dokumentierte den Vorfall vom Vormittag. Der Holzkopf sperrte das Maul auf, der Löwe brüllte. Es gab keinen Zweifel, sie taten es synchron und zur falschen Zeit, die Zeiger der Uhr standen auf dreizehn Minuten vor Zehn. Wie es der schlechte Brauch in solchen Fällen will, hatten die Reporter Einwohner und Besucher der Stadt gefragt, was die von dem Vorkommnis hielten. Es war ein Zeichen, sagten einige und redeten von Gott und dass er noch etwas vorhabe mit den Menschen. Es war das Zeichen, sagte ein nicht mehr ganz junges Paar, wir werden dieses Jahr heiraten. Zufall, mutmaßten die meisten achselzuckend, wird kaputt sein, das Ding und meinten die Uhr. Den Archivar a.D. und Hobbyastronomen Elias Lautenschläger, der alles über das Automaton am Rathausturm wusste, fragten sie nicht. Er hat sich erinnert, der Löwe, hätte er ihnen gesagt und, neun Uhr siebenundvierzig hat der Neumond begonnen.
Bis in die Bibliothek der Akademie war das Summen der Menge nicht gedrungen. …